aus: Superwarhol – Peter Weibel im Interview mit Brigitte Felderer

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Peter Weibel: [...] Der Slogan der 60er Jahre, "Leben ist Kunst. Kunst ist Leben.", beschrieb eine Tendenz der verschiedensten Richtungen vom Fluxus bis zum Aktionismus. Ich habe diese als soziale Bewegungen wahrgenommen. Meine Rezeption dieser Kunst-Bewegungen – des Wiener Aktionismus oder der Wiener Gruppe um Oswald Wiener – war sehr ,antikünstlerisch'. Wenn man der Kunst heute den Vorwurf macht, daß sie nur mehr eine akademische Disziplin sei, dann ist es damals um das Aufbrechen sozialer Konditionen und Codes gegangen. Jemand wie Rudi Gernreich war genau auf dieser Linie. Er hat bestimmte Übereinkommen – wie man sich modisch benimmt bzw. wie man durch die Kleidung die Geschlechter konstruiert – aufgekündigt. Unser Hauptfeind war die Konstruktion der Wirklichkeit durch den Staat. Alles, was dazu gedient hat, die Einteilung der Wirklichkeit – sei es durch die Sprache oder sei es durch den Staat – zu zerstören, war uns sympathisch. Es war uns jeder Mensch willkommen, der die historischen Übereinkünfte – wie man beispielsweise durch Kleidung soziale Klassen und Geschlechterrollen konstruiert – aufbricht. Und wenn jemand plötzlich in der Sexualität, die in der Jugend- und Kunstbewegung damals ein wichtiges Thema war, etwa durch den Monokini, Tabus brach, dann haben wir höchstens kritisiert, daß er nicht radikal genug gewesen war. Im Grunde ist Gernreich als Künstler, nicht als Modeschöpfer, betrachtet worden; genauer gesagt als jemand, der in seinem Feld ein sozialer Revolutionär war, weil er die Konventionen nicht eingehalten hat.

[...]Ich habe das damals so gesehen, daß Gernreich als Person der ,Superwarhol' war. Was Andy Warhol mit der Zeitschrift Interview erreichen wollte – an ,die Straße' heranzukommen, sich in die (Fashion-)Society hineinzubewegen –, was ihn in meinen Augen aber extrem kompromittiert hat, hat Gernreich längst gehabt, und zwar ohne, daß er sich kompromittiert hätte. In dem Sinn war er für mich ein ,Superwarhol', weil er schon hatte, was Andy Warhol zu erreichen versuchte und erst in den 70er und 80er Jahren erreichen sollte. Gernreich hatte zweitens etwas vom positiven Utopismus der Amerikaner wie Buckminster Fuller, das Fachwort bei Buckminster Fuller heißt Tensigrity. Damit sind Fragen gemeint wie "Ich muß Häuser nach der Leichtigkeit des Transports bauen, nicht nur nach formalen Überlegungen". Ähnliche Fragen: "Wie schnell kann ich ein Kleid an- oder ausziehen?" habe ich bei Gernreich gespürt. Ich habe ihn weniger als Österreicher wahrgenommen, sondern als jemanden, der aus dem Mythos des Wilden Westens gekommen ist, der die Möglichkeit des offenen Horizonts und die positiven Utopien à la Buckminster Fuller, die ,Space-Ideologien' verfolgt.

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